In der Freiheit liegt die Kraft
Wie zwei junge Männer ihren Job kündigten, um mit einem innovativen Rucksack neu durchzustarten
Helge Martin und Moritz Ebersbach verbindet einiges. Erst einmal sind sie Cousins. Zwei, die darüber hinaus im selben Alter sind. Beide sind 31. Früher, mit Anfang 20, als für sie definitiv noch mehr Zeit zur freien Verfügung stand, spielten sie oft Strategiespiele miteinander – allen voran Schach. Und: Sie waren bis vor kurzem noch beide festangestellt – in größeren Städten und Jobs, von denen viele junge Männer träumen. Schließlich geht es um Autos und die Aussicht auf beispiellose Erfolgskarrieren. So weit, so gut.
Doch Helge hatte diese eine Idee, die ihn nicht wieder los ließ. Er erinnert sich noch genau an den Zeitpunkt irgendwann im April 2019. Da war er in seiner damaligen Funktion als Inbetriebnahme-Ingenieur für einen Automobilzulieferer auf Geschäftsreise – wieder einmal. Und was ihm auf der Tour wie immer die meisten Nerven kostete, war nicht etwa die lange Fahrt in die Weiten dieser Welt oder das x-te Meeting mit Kunden, sondern ganz schlicht und einfach sein Koffer.
Das leidige Leben aus dem Koffer
Denn: Es fängt bereits beim Packen an. In gebückter Position. Weil der Koffer in der Regel auf dem Boden liegt. Einen Überblick über den Inhalt hat man schon jetzt nicht mehr wirklich. Auf dem Weg zum Bahngleis geht es weiter. Nicht überall stehen Aufzüge bereit, also: Koffer die Treppen hochhieven. Endlich in der Bahn. Ein Pullover wäre jetzt nicht schlecht, drum: Koffer öffnen. Derweil können die anderen Fahrgäste Einblick ins Gepäck erhaschen, es fällt etwas heraus – irgendwie zu intim. Im Hotel angekommen wird die Problematik dann in ihrer ganzen Dimension spürbar: Koffer aufgeklappt, auf dem Boden natürlich, weil wo sonst hin in dem kleinen Zimmer, Lieblingshose, die ganz unten liegt, rausgewühlt, und spätestens jetzt ist das Chaos perfekt. Und weh tut es außerdem noch, wenn man nachts im Dunkeln über das im Weg stehende Gepäckstück stolpert. Das Ende vom Lied ist in der Regel immer das gleiche: Die Motivation auf Ordnung ist dahin, deshalb wird für die Heimreise alles einfach reingestopft in das ungeliebte Teil, das alles andere als der perfekte Reisebegleiter ist.
„Ich dachte mir: Das muss definitiv auch anders gehen“, sagt Helge. „Lange habe ich überlegt, wie eine Lösung aussehen könnte.“ Dem ersten Gedankenblitz im Frühjahr 2019 folgten konkretere Überlegungen und den Einbezug seiner Vertrautesten, zu denen auch sein Cousin Moritz und seine 81-jährige Oma Erika, eine ehemalige Musternäherin, gehörten. Sie waren begeistert. Moritz arbeitete zu dem Zeitpunkt noch in Aachen als Industriedesigner und wirkte dort beim Design des Streetscooters – dem E-Transporter der Deutschen Post – mit. Nun nähte er gemeinsam mit Helge und Oma Erika das erste Exemplar eines neuen Gepäckstückes, welches das Reisen revolutionieren sollte. Die beiden Cousins schlugen sich die Nächte um die Ohren, um ihren Rucksack peu à peu zu perfektionieren.
Der Ausstieg aus dem alten Leben
Im Januar 2020 kündigte Helge seine Festanstellung – auch vor dem Hintergrund, dass die Selbstständigkeit für ihn immer eine Option war. Mit der brennenden Begeisterung für seine Geschäftsidee war die Zeit gekommen, und er ging gemeinsam mit seinem Cousin auf dem neuen Weg los. „Vorher waren da immer noch Zweifel“, erzählt er. Schließlich sicherte ihm der alte Job ein gutes Einkommen und: Nicht wenige in seinem Umfeld erinnerten Helge immer wieder gerne an das vermeintlich große Risiko seines Vorhabens. „Ja, aber ich mach das jetzt trotzdem!“ So lautete Helges Antwort, die er für sich behielt. Der Satz ist für ihn zu einer Art Mantra geworden. „Ich habe irgendwann angefangen, meine Angst umzudrehen und mich stattdessen gefragt: ‚Was passiert, wenn ich das jetzt nicht mache?‘“ Die Antwort ist einfach: Hätte er seiner Angst klein beigegeben, hätte er zurückkehren müssen in seinen alten Job – mit der bitteren Einsicht, es nie gewagt zu haben. Für Helge gab es kein Zurück: „Der Moment, in dem klar war, das mache ich jetzt, war unglaublich befreiend. Ab diesem Zeitpunkt habe ich meine Entscheidung nie wieder bereut.“ Auch Moritz ist glücklich mit der Wahl, einen neuen Weg eingeschlagen zu haben. Er beherrscht die Nähkunst mittlerweile so gut, dass er den Rucksack auch allein produzieren könnte – wenn dies nicht noch zu lange dauern würde. Er hat im Unternehmen den kreativen Part übernommen, während Helge hauptsächlich für die Geschäftsführung und die Kommunikation nach außen hin zuständig ist.
Gleichgesinnte finden
Sie hatten den Mut, aus ihrem bisherigen Leben auszusteigen und damit die gewohnte Sicherheit sowie den gewohnten Lebensstandard hinter sich zu lassen. Helge und Moritz haben selbstfinanziert ihr eigenes Business aufgebaut, ohne großartig über das entsprechende Knowhow zu verfügen. „Wir hatten keine Ahnung von Unternehmensgründung“, sagt Helge, „wir wussten nichts über Marketing und wie man überhaupt auf dem Markt agiert.“ Und dann kam auch noch die Corona-Pandemie, die, da sind sich die Gründer heute fast sicher, die Lust aufs Reisen noch einmal verstärkt hat. Viele Antworten auf ihre Fragen erhielten Helge und Moritz im Coworking-Space Minden. Hier teilen sich mehrere Start-ups und Freiberufliche die großen Flächen, um ihr Unternehmen und ihre Visionen voranzutreiben. „Es tat gut, Gleichgesinnte zu finden, die einen verstehen und mit denen man sich austauschen kann“, erklärt Moritz.
Unzählige Male hieß es aber auch, immer wieder reinzuspringen ins kalte Wasser, viele Fehler zu machen und aus diesen zu lernen. Und es bedeutet sicherlich auch, einfach mal Glück zu haben. Mit den richtigen Mitarbeitern zum Beispiel. Ihr Schneider Youssef sei ein solcher Glücksfall gewesen, erzählen die Gründer. „Wir haben ihn getroffen und es passte alles. Er beherrscht sein Handwerk unglaublich gut und passt super ins Team!“ 20 Jahre lang betrieb Youssef in Syrien seine eigene Schneiderei, bevor er 2014 nach Deutschland gekommen ist. Zum Team gehören aktuell außerdem noch Olga als Näherin und Ann-Kathrin, die sich hauptsächlich ums Marketing kümmert.
Auf Los geht’s los – Kommunikation im Fokus
Eine gefühlte Ewigkeit hat sich alles um die Geschäftsidee und das Produkt an sich gedreht. Das änderte sich, als Helge und Moritz mit ihrer fünfwöchigen Kampagne über die Crowdfunding-Plattform StartNext angetreten sind, um ihre Erfindung zu vermarkten. „Plötzlich ging es nicht mehr nur um die Rucksäcke, sondern nur noch um die richtige Kommunikation“, erklärt Helge. Auf einmal kamen die verschiedensten Menschen mit Fragen auf ihn zu: Kunden, die Presse, Investoren. Ihnen galt große Aufmerksamkeit. Nebenbei hieß es, weiterhin auf allen möglichen Kanälen aktiv zu bleiben, um neue Kunden zu erreichen. „Wir mussten schauen, welche unserer Follower in den sozialen Medien sich ausschließlich fürs Reisen interessieren. Wir haben die Foren nach Reisebloggern durchsucht, Ausschau nach weiteren Leuten in deren Community gehalten, und dann gezielt Werbung geschaltet.“
Aufregende Zeiten
Die Crowdfunding-Summe, sprich die Summe, die mindestens eingesammelt werden musste, damit das Projekt gestartet werden kann, lag bei 6.000 Euro. Diesen Betrag konnten Helge und Moritz schon drei Stunden nach Kampagnenstart am 13. März dieses Jahres einfahren. „Ja, unsere Rucksäcke kamen gut an“, erzählen beide und grinsen. Man sieht ihnen ihren Stolz an. Aber auch die Aufregung, die jetzt beide so lange begleitet, ist unübersehbar. Sie wird wohl noch ein wenig bleiben – und sie ist es ja auch, die alles so spannend macht. Mehr als hundert Rucksäcke sind bereits bei ihren Besitzern und warten auf ihre große Reise in die Freiheit. Mit voller Kraft! So in etwa verspricht es zumindest der Name LiWAVE: ein Wortspiel aus den Begriffen „Li“ (chinesisch für Kraft) und „Wave“ (englisch für Welle als Synonym für Freiheit).
Mehr Informationen zu den Gründern und ihrem Rucksack unter: www.liwave.de